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Graben und Finden

 

Für Landwirte und Bauherren sind Archäologen manchmal ein Albtraum. Wird beim Umpflügen der Äcker oder beim Aushub von Fundamenten zufällig eine Tonscherbe, Glasperle oder ein Stück Eisen gefunden, steht an diesem Ort zunächst alles still. Fachleute rücken an und bewerten die Lage. Verspricht die jeweilige Stelle weitere interessante Funde müssen Bauer und Bauherr umdenken und ihre Planung revidieren.
Archäologie, also Altertumskunde, ist ein wissenschaftliches Fachgebiet, das einen besonderen Menschenschlag hervorbringt. Junge Wissenschaftler wechseln, nachdem sie ihr theoretisches Pensum abgearbeitet haben, schnell und gerne ins Gelände. Schon seit den belegbaren Anfängen archäologischer Forschung zählen die Protagonisten zu den Abenteurern, die entlegene Teile der Welt bereisen und nach den kulturellen Geschichten der Menschen graben. Sie sind meist zupackend, euphorisch und hartnäckig, wenn es darum geht, einem interessanten Ort die dort konservierte Menschheitsgeschichte zu entlocken und in nachvollziehbare Zusammenhänge zu bringen. Ein spannendes Berufsbild also.
So lange es keine Zeitmaschine gibt, offenbart sich die Vergangenheit nur durch mühsames Graben. So wühlen sich Archäologen und ihre Helfer im wahrsten Sinne des Wortes durch die sedimentierte Erde. Zentimeter für Zentimeter mit Schaufel, Spachtel oder Pinsel entfernen sie die schützende Erde, um sich behutsam in die große und kleine Geschichte zu graben. Zweitrangig ist dabei, ob die Funde aus Gold bestehen oder man eine ehemalige Müllgrube durchforstet. Denn auch der Inhalt einer römischen oder mittelalterlichen Abfallgrube kann sehr interessante und vor allem zahlreiche Hinweise auf das jeweilige Alltagsleben offenbaren.
Wer stundenlang in einem Grabungsloch auf dem Bauch liegend, mit vorsichtigen Bewegungen konzentriert Erde und Sand entfernt, kann kein Hektiker sein. Eine falsche Bewegung und das bereits fragmentierte Stück zerfällt in zahlreiche Einzelteile. Ausgrabung ist somit eine filigrane Angelegenheit, die in bestimmten Situationen Klavierhände erfordert.
Doch das Graben ist das eine, die genaue Dokumentation der jeweiligen Fundorte das andere. Fundstücke, deren Lage nicht genauestens dokumentiert wurde, verlieren oft einen Teil ihrer, für die spätere Untersuchung wichtigen Informationen.
Und werden wichtige Stücke gehoben, landen sie in Museen und Sammlungen, wo sie auf andere Art in Schränken und Kisten, fern der Öffentlichkeit, begraben werden. Nur ein Bruchteil dessen, was im Laufe der Zeit aus dem Boden gehoben wurde, wird aufgearbeitet der Öffentlichkeit präsentiert. Trotzdem werden Archäologen nicht arbeitslos. Zu groß ist der Reiz, die zahlreichen, noch nicht entschlüsselten Rätsel der Geschichte auf diese Weise zu lösen. Nicht selten zwingen neue Funde die Archäologen zur Korrektur der vorherrschenden Thesen.   
Der Spatenstich lohnt sich an vielen Orten der Welt. Vor allem in alten Siedlungsgebieten schichten sich die vergangenen Epochen eindrucksvoll übereinander und bieten Archäologen somit doch eine Art Zeitreise. Und obgleich man glauben könnte, in der langen Zeit der modernen Archäologie wären alle wesentlichen Ausgrabungsorte bereits entdeckt, lassen sich, vor allem mit Hilfe moderner technischer Methoden und Apparate, immer wieder neue, erstaunlich reichhaltige Grabungsstätten finden.
So spannend die unmittelbare Beschäftigung mit der Geschichte für Archäologen auch ist, ihre alltägliche Arbeit fotografisch zu dokumentieren, ist vergleichsweise undankbar. Abgesehen davon, dass man an Grabungsorten nicht einfach wild herumlaufen kann, bieten sie wenig fotografisch interessante Momente. Eine oder mehrere Gruben im abgesteckten Areal, einige Zelte und das Handwerkszeug der wissenschaftlichen Mitarbeiter versprechen zunächst keine spannenden Bilder. Zudem werden die Funde meist schnell sicher verpackt und liegen daher nur selten malerisch platziert neben der Grabung. So gesehen bieten solche Orte ungefähr so viel visuelle Reize wie der Graben für ein Gartenzaun-Fundament.


Trotz dieser nicht sonderlich einladenden Tatsachen hat sich der Fotograf Thomas Kalak der Herausforderung gestellt und das sperrige Thema Archäologie mit einer besonderen fotografischen Strategie bearbeitet. Dazu Thomas Kalak: „Archäologie kennt man nur aus staubigen Fachpublikationen oder Bildbänden mit wertvollen Fundstücken. Darum entschied ich, mich dieses Themas anzunehmen, um es ganz anders darzustellen.“
Bereits das Titelbild des Buches spielt mit der Ambivalenz und Vielschichtigkeit des Sujets. Zu sehen sind in die Tiefe der Kulturlandschaft führende, rätselhafte Stufen. Obgleich ähnliche Blicke auch an gewöhnlichen Baustellen zu entdecken sind, spürt der Betrachter intuitiv, dass dieser Ort etwas Besonderes  darstellt. Symbolisch führen diese von Menschenhand gefertigten Stufen in die Erde und fordern somit die Phantasie heraus.
Thomas Kalak vermittelt die Faszination der Archäologie in unterschiedlichen Bildsprachen. Mit eher sachlich, dokumentierenden Fotografien beschreibt er die Arbeitsplätze der Archäologen, zeigt in übersichtlichen Ausschnitten Grabungsorte, Werkzeuge und die Werkstätten, in denen später die gefundenen Stücke aufgearbeitet werden. In zum Teil abstrahierenden Aufnahmen setzt der Fotograf dann seinen zuvor formulierten Anspruch um, dem Thema Archäologie auf unübliche Art zu begegnen. Angeregt von Joachim Brohms Bildband „Ruhr“ begreift Kalak den Ort als Landschaft und die Landschaft als Ort. Mit in die Weite offenen Blicken, in denen das wesentliche Motiv fast beiläufig erscheint, dennoch als zentrales Element klar erkennbar bleibt, lotet er die Möglichkeiten von dokumentierenden Übersichten aus. Den dritten gestalterischen Strang bilden Aufnahmen, die Grabungsorte in konzentrierten Ausschnitten zu abstrakten Kompositionen stilisieren.
Aufnahmen von einer durch den Wald führenden Absperrschnur, einer Vermessungsstange im Feld oder in die Erde geritzter Zeichen und Symbole entfernen sich am weitesten von der üblichen fotografischen Dokumentation archäologischer Arbeit.  Vor allem diese Fotografien überzeugen durch gestalterische Raffinesse und können sich, vom Thema losgelöst, autonom als Bilder behaupten.
Bevor gegraben wird, gleicht die Landschaft zunächst jeder anderen: Wälder, Wiesen und Felder. Nachdem die oberste Erdschicht  entfernt ist, wird die Fundstelle systematisch durchgraben und nach Gegenständen durchsucht. Auch hier versucht Thomas Kalak die Situationen auf unterschiedliche Weise zu fotografieren. Dabei geht es nicht um die Suche nach dem perfekten Standpunkt. Vielmehr beschreibt Kalak die Orte unter jeweils anderen Gesichtspunkten.
Thomas Kalak möchte sich mit diesem Buch nicht nur an Fachleute wenden und führt mit seinem Konzept den Betrachter anregend, man könnte fast sagen didaktisch, durch die einzelnen Arbeitsabschnitte der Archäologie: von der markierten Landschaft über die Grabungsaktivitäten bis in die Fachwerkstätten, in denen die Fundstücke zu vorzeigbaren Objekten bearbeitet werden. Vor allem in den Werkstätten wird die Individualität der einzelnen Arbeitsplätze und ihrer Nutzer sichtbar, was den Fotografen besonders interessierte.
Es liegt vielleicht an der Vielschichtigkeit der Aufgaben, weshalb für den Laien die Arbeitsplätze etwas chaotisch anmuten. Eine Vielzahl von verschiedenen Geräten, Werkzeugen und Arbeitsproben in unterschiedlichen Stadien der Aufarbeitung, gepaart mit persönlichen Sachen der Forscher, ergeben das fast klischeehafte Bild der gelebten Freiheit in einigen Sparten der Geistes- und Naturwissenschaft. Die anfangs erwähnte Abenteuerlust wird hier sichtbar. Für Archäologen ist aber wohl das Graben und Finden die spannendste Zeit. Wenn nach Wochen, manchmal sogar Monaten fruchtlosen Grabens plötzlich ein wertvolles Stück aus den Sedimenten gehoben wird, ist das Gefühl mit der Freude eines Yukon-Goldgräbers vergleichbar, der endlich ein reelles Stück des Edelmetalls gefunden hat.  
Obgleich Thomas Kalak die Arbeit der Archäologen recht authentisch beschreibt, gehört das Buch nicht in die Kategorie wissenschaftlich katalogisierender Publikationen. Die klar definierte inhaltliche Abfolge bietet mit der Vielzahl von unterschiedlichen visuellen Angeboten eine leicht zugängliche, populärwissenschaftliche Plattform, auf der sich auch Nichtfachleute mühelos zurecht finden.
Am Ende des Buches besucht der Fotograf die Endstationen von vielen archäologischen Fundstücken – die Museen. Hier liegt nun die Auslese  des menschlichen Wirkens aufgearbeitet, beschriftet und zum Bestaunen inszeniert. Auch hier versucht Thomas Kalak mit zum Teil dokumentierenden, zum Teil abstrahierenden Durch- und Überblicken das Archäologische Museen und die darin präsentierten Objekte als lebendige Orte zu beschreiben, in denen jeder, der notwendiges Interesse und Geduld investiert, einen anregenden Ausflug in die Vergangenheit unternehmen kann.

 

Denis Brudna, Photonews


 

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